Dienstag, 24. März 2009

Sexualität und Schamgefühl

Den ersten Sexualkundeunterricht hatten wir zu Beginn der fünften Klasse. Dort lernten wir, was wir eh schon wussten. Ich weiß wirklich nicht woher, aber man bekam es mit. Es gibt keinen expliziten Moment, in dem ich von Sex erfuhr – wir wussten einfach schon wo die Babys herkamen. Neu waren allerdings die Details. Wie lange dauert der Zyklus einer Frau, wann genau ist man fruchtbar, was geschieht mit einem befruchteten Ei und so weiter.
Ich weiß noch, dass wir Mädchen am liebsten die ganze Zeit gekichert hätten. Allerdings war das etwas absolut Verpöntes, denn wer kicherte, outete sich als „unreif“ und zwar nicht den Mitschülern gegenüber sondern den Lehrern, die einem umgehend unterstellen noch nicht verstanden zu haben, dass es sich bei der Fortpflanzung um etwas „ganz Natürliches“ handelt. Um etwas so Selbstverständliches wie z.B. Nahrungsaufnahme. Nur dumme, oder besonders konservative Menschen, dachten bis heute, Sex sei etwas „Schmutziges“ wegen dem man sich schämen sollte – oder das man erst tun durfte, wenn man verheiratet war.
Überhaupt „Scham“ so etwas gibt es ja eigentlich gar nicht, ein „Arm“ sei auch nur ein Körperteil, genauso wie ein Geschlechtsorgan. Einleuchtend!
Diese Auffassungen, schreibe ich nicht allein dem Unterricht zu, diese Auffassungen waren eine Mischung aus dem, was wir in der Bravo lasen, im Unterricht lernten und dem aktuellen Zeitgeist, den wir natürlich verinnerlicht hatten. Wir waren ja in diese Zeit hineingeboren.
Wir wussten ganz genau, was alles auf uns zukommen würde, wenn wir erstmal Teenager waren. Mit 13 würde man den ersten Freund haben und mir 16 den ersten Sex – schließlich war das laut der damaligen Statistik das Durchschnittalter für „das erste Mal“ junger Mädchen und wir wussten, dass es keinen Grund gäbe „zu warten“. Schließlich ist Sex etwas ganz Natürliches, Normales. Jedes Motiv, anders mit diesem Thema umzugehen, wäre albern oder unvernünftig.
Wir wussten, dass dann irgendwann der erste Liebeskummer käme und dann wieder der nächste Freund.

Ich kann mich allerdings noch erinnern, dass ich manchmal nachts wach lag und Panik bekam, bei dem Gedanken daran, dass ich „es“ eines Tages tun müsste. Ich wusste ja, dass mir das unweigerlich bevorstand. Jeder Mensch tat es schließlich, also würde auch ich es eines Tages tun müssen.
Wenn ich Panik sage, gibt es kein besseres Wort, das diesen Zustand beschreibt. Eine ganze Zeit lang beherrschte diese Tatsache meine Gedankenwelt fast jeden Abend!
Ich hatte wirklich große Angst.
Die absolute Gewissheit, dass „es“ irgendwann mal passieren müsse, war für mich besonders schlimm. Mir war klar, dass ich es niemals, niemals wollte – aber das zählte nicht – man wächst ja auch, ob man will oder nicht. Da gab es schlichtweg nichts zu wollen.
Außerdem hatte ich lange gedacht, Sex sei etwas, dass Erwachsenen vielleicht ein mal pro Jahr taten, jedoch hatten wir in der Schule erfahren, dass Sex etwas war, was zum Leben selbstverständlich dazugehörte. Es war nicht besonderes oder so, Erwachsene taten es also vielleicht so ein mal pro Monat. Ich war darüber sehr erschrocken.
Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, das mit mir etwas nicht stimmte. Vor Essen hatte ich doch auch keine Angst, oder davor erwachsen zu werden zum Beispiel. Sex war doch etwas, das als genauso natürlich und selbstverständlich galt, wie essen oder trinken oder was auch immer? Ich hatte doch gelernt, dass es keine Gründe gebe keinen Sex zu haben, wenn beide sich mögen. Wieso dann diese Panik?
Da ich wusste, dass nur dumme Menschen Sex als etwas unnatürliches betrachteten und da ich keine anderen Gründe für meine Angst ausmachen konnte, versuchte ich irgendwann nicht weiter darüber nachzudenken – es gab einfach keinen Grund.
Noch nie hatte ich von einem Mädchen, oder einer Frau gehört, die jemals solche Ängste gehabt haben könnte – es ging immer nur darum, wie man am besten Verhütet, wie man sich „das erste Mal“ vorstellt, wo man „es“ haben könnte!
Warum hatte ich diese diffuse Angst, vor etwas, dass so absolut natürlich war?

Den zweiten Sexualkunde Unterricht hatten wir dann in der siebten Klasse. Man wollte natürlich wieder vor den Lehrern nicht als unreif dastehen und wurde deshalb auf keinen Fall rot, oder gab sich so, als wenn einem etwas unangenehm oder sogar peinlich wäre. Das war ein wirkliches Tabu.
Woher dieses innere Unbehagen kam, gegen das ich nun so tapfer ankämpfte, wusste ich nicht. Scham konnte es ja nicht sein, es gab sie sozusagen gar nicht...
Ich weiß auch noch, dass es Eltern gab, die einen getrennten Sexualkunde Unterricht vorschlugen. Man war froh, wenn es nicht die eignen Eltern waren, denn man war sogleich im Verdacht, eine vielleicht „dumme“ Familie zu sein, die mit einem selbstverständlichen, natürlichen Thema verkrampft umging und somit dem eigenen Kind nur Schaden könne. Schließlich könnte das eigene Kind, ja nie mit Problemen zu seinen Eltern kommen, wenn diese verklemmt und intolerant waren. Kinder solcher Eltern könnten nie ein ungezwungenes Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität entwickeln.
Überhaupt, seit der siebten Klasse quoll unsere Schule nur so über vor Sexualität. Auf der Klassenreise schmiss uns eine Lehrerin mal aus dem Zimmer der Jungs, in dem wir, wie sonst auch in den Schulpausen, bei unseren Schulkameraden saßen und quatschen. Die Begründung: „Ihr wisst ja nicht, was ihr Jungs in diesem Alter antut, wenn ihr bei ihnen auf dem Schoß sitzt!“ Aha.
Als wir eines Abends durch die Zimmer gingen um Gute Nacht zu sagen, wurden wir von unsrer Lehrerin (die uns übrigens auch in Biologie unterrichtete...) erneut aus dem Zimmer gezerrt – wieder der selbe Grund. Ich weiß bis heute nicht, was sie sich dabei gedacht hat, jedenfalls galten meine Freundinnen und ich als irgendwie – keine Ahnung was!
Man trug zu dieser Zeit ( so um 1990) Levis Jeans, die unbedingt Löcher haben mussten. Meine erste Levis bekam auch gleich eins verpasst: am Knie und hinten am Oberschenkel. Alle liefen so rum und wir mochten diesen Look. Madonna trug solche Hosen, Janet Jackson – ach wirklich alle!
Als wir einmal die Treppe zum Klassenraum hochgingen zischte die Lehrerin, dass wir noch eines Tages auf dem „Baby-Strich“ enden würden. Ich war fassungslos, wie man so etwas respektloses sagen konnte. Ich hatte mir bei dieser Klamotte nichts weiter gedacht, als dass sie mir gefiel. Ich war so stolz auf meine erste Levis gewesen.
Außerdem ging es in der Liebe schließlich nicht ums Äußere, sondern darum, dass man sich vom Charakter her mag. Man wusste doch heutzutage, dass Frauen eben keine Sexobjekte sind, und wir gingen selbstverständlich davon aus, dass die Männer/Jungs das genau so sehen. Ich konnte nicht verstehen, dass ausgerechnet diese Lehrerin, die uns in Sexualkunde so selbstverständlich unterrichtete das anscheinend noch nicht begriffen hatte!
Wir hatten doch gelernt, dass ein nacktes Bein oder ein sichtbarer Oberschenkel auch nichts anderes waren als eine „nackte“ Hand! Das hatten wir nun wirklich lange genug erklärt bekommen.
Ebenfalls hatte man erkannt, dass Frauen Männer auch sexy finden können. Es war ein Jahrhunderte altes Missverständnis, dass Frauen Männer angeblich nicht sexy fanden, oder finden durften. Und da wir ja „gleich“ waren, dachte ich nicht, dass ich anders aussehe, als Jungs in einer zerrissenen Jeans – schließlich hatte das auf mich – rein körperlich – überhaupt keine Auswirkungen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen Mann gesehen und wollte mit ihm aus irgendwelchen Gründen Sex haben. Dass das umgekehrt vielleicht anders sein könnte wäre mir nie, aber auch wirklich rein gar niemals in den Sinn gekommen.
Außerdem wussten wir auch, dass das Äußere für überhaupt nichts im Leben auch nur die geringste Rolle spielte, denn Liebe oder Respekt zwischen Menschen hatte schließlich nichts mit Kleidung, dem Äußeren oder gar mit dem Geschlecht zu tun! Wir waren aufgeklärt und wussten, dass es in Wahrheit auch gar keine Heterosexualität gab. Jeder, der sich verliebte, verliebte sich in erster Linie in den „Menschen“. Das Geschlecht stand an zweiter Stelle und entschied jedenfalls nicht darüber, in welchen Menschen man sich verliebte. Zwar gab es Homosexualität, also Menschen die sich tatsächlich immer nur in Menschen eines Geschlechts (also desselben) verliebten, woran das nun genau lag wusste man aber noch nicht. Es gab bis dahin keinen Forscher, der das herausgefunden hatte. (So die Informationen) – doch eine sogenannte „Zwangshomosexualität“ wurde in solchen Fällen vermutet. Nun, auf uns Heteros traf das nicht zu. Wir jedenfalls verliebten uns in Menschen. Jede andere Vorstellung entsprang aus finsteren, vergangenen Zeiten und wurde als „Zwangsheterosexualität“ bezeichnet. Heute wusste man es besser.
Ich war zwar noch nie in ein Mädchen verliebt gewesen, aber ich wusste, dass dies ein reiner Zufall war, der weiter keine Rolle spielte. Schließlich gab es keine Rollen. Es gab Freiheiten und denen durfte man sich auf keinen Fall verschließen.
So stellt z.B. Alice Schwarzer in „Der große Unterschied“ klar:
- alle Menschen sind von Natur aus bisexuell, genauer: multisexuell, und die vorherrschende Heterosexualität ist das Resultat einer kulturellen „Zwangsheterosexualität“;
Des Weiteren zitiert Schwarzer den Hamburger Sexualtherapeuten Gunther Schmidt: „Einem hoch entwickelten Lebewesen wie dem Menschen entspricht es eigentlich gar nicht, seine Partnerwahl nach dem Geschlecht zu richten. Es ist doch nur logisch, wenn dabei mehr und mehr Kriterien eine Rolle spielen, die uns viel Angemessener sind: die Ausstrahlung, die Interessen und Charakterzüge (...) – und zwar ganz unabhängig vom Geschlecht.“

Wem das jetzt ein wenig wirr erscheint, dem kann ich nur sagen, dass es das war, was wir lernten und was uns vermittelt wurde. Ich hatte diese Ansichten übernommen. Es war mir so erklärt worden – von denselben Menschen die uns erklärten, woran man Ideologien erkennt oder wie man binomische Formeln anwendet. Ich hatte es als plausibel empfunden. Die Weichen dafür, waren bereits seit Kindertagen gestellt!

Viele Jahre später, berichtete meine beste Freundin an einem unserer Mädelsabende bei einem Glas Rotwein von ihrem ersten "One Night Stand". Sie hatte einen „süßen Typen“ in einer Bar kennen gelernt und sich sogleich in ihn „verguckt“. Sie flirteten und „landeten im Bett“. Er war charmant und ein wirklich angenehmer Liebhaber gewesen.
Sie fuhr am nächsten Morgen nach Hause ohne Abschiedsschmerz – schließlich ging es hier nicht um Hoffnungen auf irgendwas – das glaubte ich ihr sogar. Man weiß zwar nie was doch noch draus werden könnte, so unsere Überzeugung, aber ich glaubte ihr.
Doch dann erzählte sie, dass sie sich, zu Hause angekommen, so leer gefühlt habe. So als ob ihre Gefühle allesamt abgestellt sein. Sie könne es uns schlecht beschreiben, also sollten wir uns die Schule vorstellen, so wie sie früher an Nachmittagen war. Es war dasselbe Haus und doch nicht, eben leer und – ohne Leben. Später, sagte sie, sei eine Kälte dazugekommen und Bedrückung. Sie sei froh gewesen, als „der Tag danach“ vorbei gewesen war und die normale Woche wieder anfing.
Meine andere gute Freundin berichtete sogleich, dass das normal sei und sie sich „danach“ auch immer so fühle. Einmal hatte sich das sogar in richtige Übelkeit mit allen körperlichen Konsequenzen verwandelt. Sie lachte während sie erzählte. Ich will hier nicht das Unschuldslamm spielen, aber mitreden konnte ich nicht, also hörte ich gespannt zu und war wirklich erstaunt. Zwar hatte ich mir zu diesem Thema noch keine Gedanken gemacht – ich dachte ich wüsste alles – aber mit solchen Schilderungen hatte ich dann doch nicht gerechnet. Übelkeit und Leere? Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten. Und wenn das stimmt, warum macht man es dann wieder? In Zeitschriften, las sich das, als gehöre es zu einem normalen Leben einfach dazu. Ich ging davon aus, dieses ganz selbstverständlich auch irgendwann zu erleben. Zwar solle es auch Frauen geben, für die ein "One Night Stand" nicht in Frage käme und das müsse man auch ganz selbstverständlich tolerieren. Aber solche Frauen hatte ich bisher noch nie kennen gelernt. (Außer vielleicht Britney Spears übers Fernsehen, die sagte solche Sachen wie, dass sie erst Sex haben wollte, wenn sie verheiratet sei. Und an ihrer ganzen Person oder ihrem Auftreten, galt diese Äußerung als das Albernste. Kein Wunder, Amerikaner gelten ja gemeinhin als verklemmt oder „Doppelmoralisch“). So war unsere Gesellschaft schließlich längst nicht mehr! Wir waren aufgeklärt und selbstbestimmt.
Was also war mit meinen Freundinnen los?

Nach all dem was wir wussten, gab es keine Erklärungen für diese traurigen Reaktionen. Einzig etwas verrückt war, dass es sie gab. Uns erschienen diese Gefühle nicht als „normal“ oder angemessen.
Wir beschlossen, dass man da irgendwie an sich arbeiten müsse. Es ging schließlich um eine freie Sexualität und um einen selbstverständlichen Umgang mit der eigenen Körperlichkeit – und solche Reaktionen passten da einfach nicht hinein!
Die Frage - wie denn etwas so natürliches und selbstverständliches wie Sex, zu Übelkeit und seelischer Leere führen konnte - stellte ich mir zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr...