Freitag, 14. August 2009

Kinderwunsch und Familie

Ich habe keinen Kinderwunsch.
Wenn ich gefragt werde ob ich Kinder möchte, so ist die einzige Antwort die ich geben kann: Ich möchte nicht keine Kinder haben! Und diese Antwort ist wahr. Ich möchte wirklich nicht keine Kinder haben. Genau das ist es, was ich fühle. Nun könnte man daraus eigentlich schließen: Sie will also Kinder. Aber diese Antwort wäre falsch.
Ausschließlich der Gedanke keine Kinder zu haben ist für mich ausgeschlossen. Vor allem, wenn ich mal alt bin. Ich habe keine Vorstellung, keine Bilder und keine Ideen von der Zeit dazwischen oder wann genau ich Kinder möchte (momentan ist die Antwort jedenfalls „später“) aber Fakt ist: Ich möchte nicht keine Kinder haben!

Die Mütter meiner Freundinnen und Bekannten waren alle Anfang 20 als ihre ersten Kinder zur Welt kamen. Die Frauen in meinem Freundeskreis und ich sind alle Anfang 30 und kinderlos. Es muss also in den 70ern aus irgendeinem Grund normal gewesen sein so wahnsinnig jung Kinder zu bekommen. Ich hatte in dem Alter gerade mal meine erste eigene Wohnung. Unsere Mütter lebten da schon mit ihren Ehemännern zusammen.
Von meinen Freundinnen ist auch keine einzige Verheiratet oder denkt auch nur daran.
Waren unsere Mütter so unvernünftig oder naiv, dass sie nach zwei Jahren Beziehung ihren Freund gleich heirateten und glaubten sie hätten die große Liebe gefunden? Zwang man sie vielleicht dazu, weil Frauen Mitte der 70er als Unanständig galten, wenn sie allein lebten? Hatten sie keine individuellen Träume oder Wünsche in Bezug auf ihre Zukunft? Hatten sie keine Talente oder Anlagen die sie erst Ausleben wollten, bevor man sie an Haus und Kinder „fesselte“? Wollten sie nicht erst ein eigenes Leben aufbauen, eine Persönlichkeit herausbilden, Erfahrungen sammeln, selbstständig werden und auf eigenen Füßen stehen. Hatten sie an das Leben denn gar keine Ansprüche?
Oder waren sie die Opfer eines männlichen Machtanspruches?
So jedenfalls hatte man es uns beigebracht. Das dümmste was man als Frau überhaupt machen konnte, war heiraten und Kinder bekommen. Und mit Anfang 20 war das auch so ziemlich das Letzte, was ich wollte!
Sobald man die Worte Heirat oder Kinder auch nur hörte baute sich eine riesige innere Sperre auf ohne sich zu fragen ob man das denn vielleicht mal möchte oder nicht. Allein sich diese Frage zu stellen, dazu waren wir nicht in der Lage.

Wie ist dieser Unterschied zwischen den Generationen zu erklären?

Alice Schwarzer vertritt dazu folgenden Standpunkt: "Es mangelt den jungen Frauen (heute) nicht mehr an (...) Vorbildern: von der Gerichtspräsidentin bis zur Nobelpreisträgerin, von der Kommissarin bis zur Rennfahrerin, von der Bankerin bis zur Künstlerin, Selbst in Hollywood agieren inzwischen Frauen, die schon lange nicht mehr nur ihr schönes Gesicht hinhalten, sondern ihre Filme auch selbst produzieren(...). Und auch davor, dass es trotz allen Fortschritts noch Probleme gibt bei der viel beschworenen „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, verschließen zunehmend weniger Frauen die Augen. Sie ziehen sogar Konsequenzen: Sie heiraten immer weniger und immer später. (...) Und sie bekommen immer weniger Kinder.
Niemand sagt es laut, aber: Wir befinden uns in Deutschland mitten in einem virulenten Geburtsstreik."

Vielleicht hat Alice diesmal sogar Recht – wenn auch anders als sie es meint, denn: So viele Vorbilder wir auch hatten, ein ganz bestimmtes hatten wir nicht: Das einer „Mutter“! Die Mutter im klassischen Sinn, war in unserem Leben einfach nicht vorhanden. Es gab sozusagen keine Mütter.
Ich war seit meinem vierten Lebensjahr, also seit dem Erwachen meines Bewusstseins, im Kindergarten. Die Mütter all meiner Freunde, und all der Kinder denen ich dort begegnete waren also berufstätig. Etwas anderes kannten wir nicht. (Lange Zeit verstand ich auch nicht wirklich, warum es ein „Problem“ geben soll in Bezug auf „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – dieses Problem hatte ich niemals erlebt.)
In meiner Welt waren arbeitende Väter UND Mütter das normalste überhaupt.
Wie gesagt, es gab schlichtweg gar nichts anderes!
Was ich damals noch nicht wusste: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schien kein Problem zu sein, da das, was Menschen wohl unter Familie verstehen, so gut wie gar nicht stattfand.
Gemeinsame Mittagessen, eine Mutter die kocht und ein Vater der mit mir das Fahrrad repariert oder ein Baumhaus baut – gab es nicht. Ich bekam manchmal abends eine Geschichte vorgelesen oder es wurde auch mal am Wochenende in den Zoo gegangen – aber mein eigentliches Leben fand im Kindergarten statt. Wenn meine Mutter mich dort abholte war es 18 Uhr, zu Hause angekommen musste sie erstmal tausend andere Sachen erledigen, einkaufen, abwaschen, aufräumen, bügeln. Und mein Vater war um die Zeit noch gar nicht da. Bettfertig machen regelte ich allein, dann hörte ich noch Kassetten – und das wars.
Keine Ahnung was in Familien geschieht in denen die Mutter zu Hause ist?!

Auch in der Schule existierte das „Thema“ Familie im klassischen Sinne kaum bis gar nicht. Im zweiten Schuljahr (83/84) überflutete eine Scheidungswelle unsere Klasse. Zu Beginn des Schuljahres waren alle Eltern meiner Mitschüler noch verheiratet gewesen. Ein Jahr später waren es noch weniger als die Hälfte. Nach Abschluss der Grundschule waren nur noch die Eltern von insgesamt drei Schülern (mich eingeschlossen) verheiratet. Ich kam mir irgendwie merkwürdig dabei vor. Warum waren meine Eltern noch nicht geschieden? Stimmte mit ihnen vielleicht etwas nicht?
Während dieser Zeit hatten wir erfahren, dass die Möglichkeit der Scheidung eine neue Errungenschaft gewesen war, die erst seit Kurzem existierte, und etwas, dass Menschen, ganz besonders Frauen, früher nicht tun durften. Auch wenn der Mann sie schlug oder Fremdging. Eine geschiedene Frau galt als etwas Schlechtes.
Und erst vor weniger Zeit hatte die Menschheit erfahren, dass eine Frau kein schlechter Mensch ist, wenn sie sich scheiden lässt – sondern genau das Gegenteil: Eine aufrechte Person, die sich den Problemen des Lebens stellt, sich nicht abhängig macht von einem Mann, sondern ihr Leben selbst in die Hand nimmt!
Ich konnte kaum fassen, dass das nicht schon immer so gesehen wurde...
Was war den mit den Menschen bloß los gewesen?

Auch hier liefert Alice Schwarzer eine scheinbar passende Erklärung:
„Jede geschlagene oder vergewaltigte Frau glaubte lange: Ich bin die einzige. Sie wusste nichts vom Leid der Millionen anderen. Denn die Gewalt in der Familie war ein totales Tabu, bis die Frauenbewegung kam.
Die Familie (...) ist ein Phantom. Sie taugt wenig als Urzelle einer künftigen Gesellschaft, denn sie basiert auf Hierarchie und Abhängigkeit, Macht und Gewalt.
Der Zerfall der traditionellen Familie ist ein langer Prozess (...) die Emanzipation der Frauen hat der patriarchalen Familie endgültig das Fundament entzogen.“

Auch in meinen späteren Teenagerjahren gab es weder Auseinandersetzungen zum Thema Familie oder Mutterschaft. Schwangerschaften waren etwas, das es um jeden preis zu verhindern galt. Nichts Schlimmeres konnte einem Mädchen im Teenageralter geschehen als Schwanger zu werden. Verhütung war das Thema Nr. 1 – ob in der Schule in den Medien oder im Bekanntenkreis. Informationen darüber, was im Fall einer ungewollten Schwangerschaft zu tun war, gab es in Hülle und Fülle. Jugendberatungsstellen, die Budgets für Abtreibungen zur Verfügung hatten, und einen Begleiteten, ohne das Eltern davon etwas mitbekommen sollten, Informationsbroschüren von Pro Familia, die wir im Unterricht erhielten, oder unsere Frauenärzte, welche die Möglichkeit boten, „die Pille danach“ zu verwenden – wie mach ausrechnet, wann und wie genau diese zu verwenden sei, lernten wir ebenfalls in der Schule.

Als ich bereits eine junge Frau war, hatte sich an dieser Sicht nichts verändert. Als ich einmal in einer Runde zusammen mit Kolleginnen meiner Ausbildungsstätte saß und erzählte, dass wenn ich vielleicht mal Kinder hätte, ich sie auch gern selbst betreuen würde, waren sich alle einig, dass dies „Verschwendung“ sei. Ob ich denn gar keinen Stolz hätte. Man erlernt doch keinen anspruchsvollen Beruf um dann nur noch in LALA-Sprache zu kommunizieren. Auch meine Mutter war der Meinung, dass man heute nicht mehr zu Hause bleiben muss, auch wenn es sehr viel schönes hatte und diese Zeit ja nicht „nur“ vergeudet wäre.
Nun, vielleicht hatten sie ja auch irgendwie Recht?
Warum also, sollte ich mir Kinder wünschen? Die ganze zusätzliche Arbeit und das Gehetze, das meine Mutter veranstalten musste um zwischen Feierabend und Kind abholen auch noch einzukaufen, das würde ich mir gerne ersparen. Zwei Menschen im Haus (also Mann und Kind) durch die sich die Hausarbeit auch noch verdreifacht – also Danke aber auch darauf kann ich gut verzichten. Und dann musste man auch noch irgendwie immer mit Trennung oder Scheidung rechnen – und für diesen Fall planen.
Ich hatte so schon (als Single) kaum Zeit meinen Kühlschrank rechtzeitig zu füllen, meine Wäsche zu machen oder Papierkram zu erledigen. Ich kann so schon immer erst um sieben Heim und war erschöpft genug, nachdem ich meine eigenen Sachen geregelt hatte. Ich musste doch alles allein bewältigen und diese Unabhängigkeit zu bewahren war schließlich das wichtigste.
Mit Mitte 20 wusste ich also: es gibt vielleicht Frauen, die das irgendwie hinkriegen – aber ich gehörte nicht dazu! Mir war der bloße Gedanke schon zuviel.
Wozu sollte das auch gut sein? Was würde ich schon verpassen? Einfach mal gar nichts! Ich konnte immer weniger nachvollziehen, dass es überhaupt Leute gab, die Kinder wollen. Meine Freundinnen sahen das genauso wie ich!

Bis heute habe ich das Gefühl, das sich mein Bewusstsein zum Thema Kinder und Familie seit dieser Zeit eigentlich kein bisschen weiterentwickelt hat. Bis Anfang 30 war ich mit der Umsetzung meiner beruflichen Pläne so vollständig beschäftigt, dass ich mir über Kinder und Familie keine großen Gedanken gemacht hatte. Schwanger werden ist das, was es zu verhindern gilt! Und erstaunlicherweise, denke nicht nur ich so.
Vor ungefähr einem Jahr lernte ich das erste Mal eine Frau in meinem Alter kennen, die heiraten wollte und bereits schwanger war. Wir kamen ins Gespräch und ich hatte viele Fragen an sie. Genau wie ich hatte sie kein Bild und keine Vorstellungen davon, wie die Zeit mit Kind aussehen könnte. Und obwohl das Kind geplant und die Schwangerschaft gewollt war, fühlte sie sich wie eine 15jährige, die nicht „aufgepasst“ hatte. Die innere Schranke, die dafür zuständig war auf gar keinen Fall schwanger zu werden war noch immer aktiv. Begegnete sie ihren Eltern, so fühlte sie sich wie ein Teenager, der die Eltern mit seiner Schwangerschaft in eine schreckliche Situation bringt und sie schämte sich sogar ein bisschen dafür. Ebenso vor ihren Freundinnen, die allesamt weder daran dachten schwanger zu werden, noch mit der Schwangerschaft ihrer Freundin etwas anzufangen wussten. Und auch sie selbst konnte noch immer keinen „echten“ Kinderwunsch fühlen. Sie wusste nur „gar keine Kinder haben, dass möchte ich irgendwie nicht.“
Erstaunlicherweise, hatten ihre Eltern auch fast auf diese Nachricht reagiert, als sei ihre erwachsene Tochter ein unvorsichtiges Kind. Die erste Reaktion: War es gewollt? Wieso denn so früh, heutzutage muss man das doch gar nicht mehr. Du bist doch jetzt erst 32! Ich dachte du möchtest erst „später“ Kinder!
Auch ihre Freundinnen hatten ähnlich reagiert. Und das beliebteste Gesprächsthema war nun die Verhinderung von Schwangerschaftsstreifen und ab wann man wieder in den Beruf einsteigen sollte. Natürlich so schnell wie möglich!
Das war es worum es ging, wenn man sich erlaubte überhaupt Kinder zu bekommen.
Wenn man sich gestattete, das Verbot zu übertreten.


Also wünschte ich mir einfach keine Kinder – und dennoch, etwas in mir flüsterte:
Ich möchte nicht keine Kinder haben...

Ich glaube, dass es mal Anlagen in mir für einen Kinderwunsch gegeben haben muss. Schließlich spielte ich als kleines Mädchen täglich „Mutter und Kind“ oder schob meine Puppen im Kinderwagen vor mir her. Jedoch glaube ich, dass diese Anlage über die Jahre verkümmert ist und meine Seele die einzige Möglichkeit hatte mir diesen verschwurbelten Wunsch zu schicken, damit ich sie überhaupt hören kann.

Dienstag, 24. März 2009

Sexualität und Schamgefühl

Den ersten Sexualkundeunterricht hatten wir zu Beginn der fünften Klasse. Dort lernten wir, was wir eh schon wussten. Ich weiß wirklich nicht woher, aber man bekam es mit. Es gibt keinen expliziten Moment, in dem ich von Sex erfuhr – wir wussten einfach schon wo die Babys herkamen. Neu waren allerdings die Details. Wie lange dauert der Zyklus einer Frau, wann genau ist man fruchtbar, was geschieht mit einem befruchteten Ei und so weiter.
Ich weiß noch, dass wir Mädchen am liebsten die ganze Zeit gekichert hätten. Allerdings war das etwas absolut Verpöntes, denn wer kicherte, outete sich als „unreif“ und zwar nicht den Mitschülern gegenüber sondern den Lehrern, die einem umgehend unterstellen noch nicht verstanden zu haben, dass es sich bei der Fortpflanzung um etwas „ganz Natürliches“ handelt. Um etwas so Selbstverständliches wie z.B. Nahrungsaufnahme. Nur dumme, oder besonders konservative Menschen, dachten bis heute, Sex sei etwas „Schmutziges“ wegen dem man sich schämen sollte – oder das man erst tun durfte, wenn man verheiratet war.
Überhaupt „Scham“ so etwas gibt es ja eigentlich gar nicht, ein „Arm“ sei auch nur ein Körperteil, genauso wie ein Geschlechtsorgan. Einleuchtend!
Diese Auffassungen, schreibe ich nicht allein dem Unterricht zu, diese Auffassungen waren eine Mischung aus dem, was wir in der Bravo lasen, im Unterricht lernten und dem aktuellen Zeitgeist, den wir natürlich verinnerlicht hatten. Wir waren ja in diese Zeit hineingeboren.
Wir wussten ganz genau, was alles auf uns zukommen würde, wenn wir erstmal Teenager waren. Mit 13 würde man den ersten Freund haben und mir 16 den ersten Sex – schließlich war das laut der damaligen Statistik das Durchschnittalter für „das erste Mal“ junger Mädchen und wir wussten, dass es keinen Grund gäbe „zu warten“. Schließlich ist Sex etwas ganz Natürliches, Normales. Jedes Motiv, anders mit diesem Thema umzugehen, wäre albern oder unvernünftig.
Wir wussten, dass dann irgendwann der erste Liebeskummer käme und dann wieder der nächste Freund.

Ich kann mich allerdings noch erinnern, dass ich manchmal nachts wach lag und Panik bekam, bei dem Gedanken daran, dass ich „es“ eines Tages tun müsste. Ich wusste ja, dass mir das unweigerlich bevorstand. Jeder Mensch tat es schließlich, also würde auch ich es eines Tages tun müssen.
Wenn ich Panik sage, gibt es kein besseres Wort, das diesen Zustand beschreibt. Eine ganze Zeit lang beherrschte diese Tatsache meine Gedankenwelt fast jeden Abend!
Ich hatte wirklich große Angst.
Die absolute Gewissheit, dass „es“ irgendwann mal passieren müsse, war für mich besonders schlimm. Mir war klar, dass ich es niemals, niemals wollte – aber das zählte nicht – man wächst ja auch, ob man will oder nicht. Da gab es schlichtweg nichts zu wollen.
Außerdem hatte ich lange gedacht, Sex sei etwas, dass Erwachsenen vielleicht ein mal pro Jahr taten, jedoch hatten wir in der Schule erfahren, dass Sex etwas war, was zum Leben selbstverständlich dazugehörte. Es war nicht besonderes oder so, Erwachsene taten es also vielleicht so ein mal pro Monat. Ich war darüber sehr erschrocken.
Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, das mit mir etwas nicht stimmte. Vor Essen hatte ich doch auch keine Angst, oder davor erwachsen zu werden zum Beispiel. Sex war doch etwas, das als genauso natürlich und selbstverständlich galt, wie essen oder trinken oder was auch immer? Ich hatte doch gelernt, dass es keine Gründe gebe keinen Sex zu haben, wenn beide sich mögen. Wieso dann diese Panik?
Da ich wusste, dass nur dumme Menschen Sex als etwas unnatürliches betrachteten und da ich keine anderen Gründe für meine Angst ausmachen konnte, versuchte ich irgendwann nicht weiter darüber nachzudenken – es gab einfach keinen Grund.
Noch nie hatte ich von einem Mädchen, oder einer Frau gehört, die jemals solche Ängste gehabt haben könnte – es ging immer nur darum, wie man am besten Verhütet, wie man sich „das erste Mal“ vorstellt, wo man „es“ haben könnte!
Warum hatte ich diese diffuse Angst, vor etwas, dass so absolut natürlich war?

Den zweiten Sexualkunde Unterricht hatten wir dann in der siebten Klasse. Man wollte natürlich wieder vor den Lehrern nicht als unreif dastehen und wurde deshalb auf keinen Fall rot, oder gab sich so, als wenn einem etwas unangenehm oder sogar peinlich wäre. Das war ein wirkliches Tabu.
Woher dieses innere Unbehagen kam, gegen das ich nun so tapfer ankämpfte, wusste ich nicht. Scham konnte es ja nicht sein, es gab sie sozusagen gar nicht...
Ich weiß auch noch, dass es Eltern gab, die einen getrennten Sexualkunde Unterricht vorschlugen. Man war froh, wenn es nicht die eignen Eltern waren, denn man war sogleich im Verdacht, eine vielleicht „dumme“ Familie zu sein, die mit einem selbstverständlichen, natürlichen Thema verkrampft umging und somit dem eigenen Kind nur Schaden könne. Schließlich könnte das eigene Kind, ja nie mit Problemen zu seinen Eltern kommen, wenn diese verklemmt und intolerant waren. Kinder solcher Eltern könnten nie ein ungezwungenes Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität entwickeln.
Überhaupt, seit der siebten Klasse quoll unsere Schule nur so über vor Sexualität. Auf der Klassenreise schmiss uns eine Lehrerin mal aus dem Zimmer der Jungs, in dem wir, wie sonst auch in den Schulpausen, bei unseren Schulkameraden saßen und quatschen. Die Begründung: „Ihr wisst ja nicht, was ihr Jungs in diesem Alter antut, wenn ihr bei ihnen auf dem Schoß sitzt!“ Aha.
Als wir eines Abends durch die Zimmer gingen um Gute Nacht zu sagen, wurden wir von unsrer Lehrerin (die uns übrigens auch in Biologie unterrichtete...) erneut aus dem Zimmer gezerrt – wieder der selbe Grund. Ich weiß bis heute nicht, was sie sich dabei gedacht hat, jedenfalls galten meine Freundinnen und ich als irgendwie – keine Ahnung was!
Man trug zu dieser Zeit ( so um 1990) Levis Jeans, die unbedingt Löcher haben mussten. Meine erste Levis bekam auch gleich eins verpasst: am Knie und hinten am Oberschenkel. Alle liefen so rum und wir mochten diesen Look. Madonna trug solche Hosen, Janet Jackson – ach wirklich alle!
Als wir einmal die Treppe zum Klassenraum hochgingen zischte die Lehrerin, dass wir noch eines Tages auf dem „Baby-Strich“ enden würden. Ich war fassungslos, wie man so etwas respektloses sagen konnte. Ich hatte mir bei dieser Klamotte nichts weiter gedacht, als dass sie mir gefiel. Ich war so stolz auf meine erste Levis gewesen.
Außerdem ging es in der Liebe schließlich nicht ums Äußere, sondern darum, dass man sich vom Charakter her mag. Man wusste doch heutzutage, dass Frauen eben keine Sexobjekte sind, und wir gingen selbstverständlich davon aus, dass die Männer/Jungs das genau so sehen. Ich konnte nicht verstehen, dass ausgerechnet diese Lehrerin, die uns in Sexualkunde so selbstverständlich unterrichtete das anscheinend noch nicht begriffen hatte!
Wir hatten doch gelernt, dass ein nacktes Bein oder ein sichtbarer Oberschenkel auch nichts anderes waren als eine „nackte“ Hand! Das hatten wir nun wirklich lange genug erklärt bekommen.
Ebenfalls hatte man erkannt, dass Frauen Männer auch sexy finden können. Es war ein Jahrhunderte altes Missverständnis, dass Frauen Männer angeblich nicht sexy fanden, oder finden durften. Und da wir ja „gleich“ waren, dachte ich nicht, dass ich anders aussehe, als Jungs in einer zerrissenen Jeans – schließlich hatte das auf mich – rein körperlich – überhaupt keine Auswirkungen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen Mann gesehen und wollte mit ihm aus irgendwelchen Gründen Sex haben. Dass das umgekehrt vielleicht anders sein könnte wäre mir nie, aber auch wirklich rein gar niemals in den Sinn gekommen.
Außerdem wussten wir auch, dass das Äußere für überhaupt nichts im Leben auch nur die geringste Rolle spielte, denn Liebe oder Respekt zwischen Menschen hatte schließlich nichts mit Kleidung, dem Äußeren oder gar mit dem Geschlecht zu tun! Wir waren aufgeklärt und wussten, dass es in Wahrheit auch gar keine Heterosexualität gab. Jeder, der sich verliebte, verliebte sich in erster Linie in den „Menschen“. Das Geschlecht stand an zweiter Stelle und entschied jedenfalls nicht darüber, in welchen Menschen man sich verliebte. Zwar gab es Homosexualität, also Menschen die sich tatsächlich immer nur in Menschen eines Geschlechts (also desselben) verliebten, woran das nun genau lag wusste man aber noch nicht. Es gab bis dahin keinen Forscher, der das herausgefunden hatte. (So die Informationen) – doch eine sogenannte „Zwangshomosexualität“ wurde in solchen Fällen vermutet. Nun, auf uns Heteros traf das nicht zu. Wir jedenfalls verliebten uns in Menschen. Jede andere Vorstellung entsprang aus finsteren, vergangenen Zeiten und wurde als „Zwangsheterosexualität“ bezeichnet. Heute wusste man es besser.
Ich war zwar noch nie in ein Mädchen verliebt gewesen, aber ich wusste, dass dies ein reiner Zufall war, der weiter keine Rolle spielte. Schließlich gab es keine Rollen. Es gab Freiheiten und denen durfte man sich auf keinen Fall verschließen.
So stellt z.B. Alice Schwarzer in „Der große Unterschied“ klar:
- alle Menschen sind von Natur aus bisexuell, genauer: multisexuell, und die vorherrschende Heterosexualität ist das Resultat einer kulturellen „Zwangsheterosexualität“;
Des Weiteren zitiert Schwarzer den Hamburger Sexualtherapeuten Gunther Schmidt: „Einem hoch entwickelten Lebewesen wie dem Menschen entspricht es eigentlich gar nicht, seine Partnerwahl nach dem Geschlecht zu richten. Es ist doch nur logisch, wenn dabei mehr und mehr Kriterien eine Rolle spielen, die uns viel Angemessener sind: die Ausstrahlung, die Interessen und Charakterzüge (...) – und zwar ganz unabhängig vom Geschlecht.“

Wem das jetzt ein wenig wirr erscheint, dem kann ich nur sagen, dass es das war, was wir lernten und was uns vermittelt wurde. Ich hatte diese Ansichten übernommen. Es war mir so erklärt worden – von denselben Menschen die uns erklärten, woran man Ideologien erkennt oder wie man binomische Formeln anwendet. Ich hatte es als plausibel empfunden. Die Weichen dafür, waren bereits seit Kindertagen gestellt!

Viele Jahre später, berichtete meine beste Freundin an einem unserer Mädelsabende bei einem Glas Rotwein von ihrem ersten "One Night Stand". Sie hatte einen „süßen Typen“ in einer Bar kennen gelernt und sich sogleich in ihn „verguckt“. Sie flirteten und „landeten im Bett“. Er war charmant und ein wirklich angenehmer Liebhaber gewesen.
Sie fuhr am nächsten Morgen nach Hause ohne Abschiedsschmerz – schließlich ging es hier nicht um Hoffnungen auf irgendwas – das glaubte ich ihr sogar. Man weiß zwar nie was doch noch draus werden könnte, so unsere Überzeugung, aber ich glaubte ihr.
Doch dann erzählte sie, dass sie sich, zu Hause angekommen, so leer gefühlt habe. So als ob ihre Gefühle allesamt abgestellt sein. Sie könne es uns schlecht beschreiben, also sollten wir uns die Schule vorstellen, so wie sie früher an Nachmittagen war. Es war dasselbe Haus und doch nicht, eben leer und – ohne Leben. Später, sagte sie, sei eine Kälte dazugekommen und Bedrückung. Sie sei froh gewesen, als „der Tag danach“ vorbei gewesen war und die normale Woche wieder anfing.
Meine andere gute Freundin berichtete sogleich, dass das normal sei und sie sich „danach“ auch immer so fühle. Einmal hatte sich das sogar in richtige Übelkeit mit allen körperlichen Konsequenzen verwandelt. Sie lachte während sie erzählte. Ich will hier nicht das Unschuldslamm spielen, aber mitreden konnte ich nicht, also hörte ich gespannt zu und war wirklich erstaunt. Zwar hatte ich mir zu diesem Thema noch keine Gedanken gemacht – ich dachte ich wüsste alles – aber mit solchen Schilderungen hatte ich dann doch nicht gerechnet. Übelkeit und Leere? Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten. Und wenn das stimmt, warum macht man es dann wieder? In Zeitschriften, las sich das, als gehöre es zu einem normalen Leben einfach dazu. Ich ging davon aus, dieses ganz selbstverständlich auch irgendwann zu erleben. Zwar solle es auch Frauen geben, für die ein "One Night Stand" nicht in Frage käme und das müsse man auch ganz selbstverständlich tolerieren. Aber solche Frauen hatte ich bisher noch nie kennen gelernt. (Außer vielleicht Britney Spears übers Fernsehen, die sagte solche Sachen wie, dass sie erst Sex haben wollte, wenn sie verheiratet sei. Und an ihrer ganzen Person oder ihrem Auftreten, galt diese Äußerung als das Albernste. Kein Wunder, Amerikaner gelten ja gemeinhin als verklemmt oder „Doppelmoralisch“). So war unsere Gesellschaft schließlich längst nicht mehr! Wir waren aufgeklärt und selbstbestimmt.
Was also war mit meinen Freundinnen los?

Nach all dem was wir wussten, gab es keine Erklärungen für diese traurigen Reaktionen. Einzig etwas verrückt war, dass es sie gab. Uns erschienen diese Gefühle nicht als „normal“ oder angemessen.
Wir beschlossen, dass man da irgendwie an sich arbeiten müsse. Es ging schließlich um eine freie Sexualität und um einen selbstverständlichen Umgang mit der eigenen Körperlichkeit – und solche Reaktionen passten da einfach nicht hinein!
Die Frage - wie denn etwas so natürliches und selbstverständliches wie Sex, zu Übelkeit und seelischer Leere führen konnte - stellte ich mir zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr...